Photographer Paul Fuller in the Hackney Marshes

Interview

Fasziniert vom Chaos

Im Gespräch mit dem Londoner Fotografen Paul Fuller

Paul Fuller ist Filmemacher und Fotograf für Mode, Musik, Reportage, Portrait und Fine Art. Seine Arbeiten sind voller Atmosphäre und Zauber. Für ein neuestes Projekt „Mustaaärd“, eine Kunst- und Kultur- Webseite, portraitiert er Künstler, die er und seine Projektpartner aussuchen. Viele seiner Bilder sind ganz in der Nähe seines zu Hauses entstanden: in den Hackney Marshes, ein Grünstreifen entlang des Flusses River Lea in East London. Dort treffen wir uns auf einen Spaziergang.

Paul, deine Bilder sehen aus, als wären sie mit einer Filmkamera fotografiert worden. Sind sie das oder ist das ein Style, den du in der Nachbearbeitung anstrebst?

Manche sind Film, manche nicht. Ich habe Phasen. Und ich habe wie die meisten Fotografen viel zu viele Kameras – Film- und Digitalkameras. Aber ich versuche meine Bilder nicht unbedingt nach Film aussehen zu lassen. Ich versuche eher, sie nicht digital aussehen zu lassen. Digital ist zu clean, zu perfekt und es ist toll für manche. Aber ich mag es lieber unperfekt, weniger klar und mehr atmosphärisch. Allerdings ist es nicht so, dass ich als Film-Fotograf begonnen habe und dann diesen Look behalten wollte. Denn als ich angefangen habe, mich so richtig für Fotografie zu interessieren, gab es bereits Digitalkameras.

Auf deinem Portfolio auf deiner Webseite sind viele Bilder von persönlichen Projekten. Wie findest du und entscheidest du dich für die?

Auf meiner Webseite sind eigentlich fast gar keine bezahlten Sachen. Das meiste, was da zu sehen ist, habe ich just for fun gemacht. Zum Beispiel gehe ich zu vielen Gigs und Konzerten. Und wenn es eine Band gibt, die ich mag und die interessant aussieht, dann schreibe ich ihnen eine Nachricht ob sie mir einen Fotopass für ihren Gig schicken können – einfach weil ich sowas gern fotografiere. Wenn ich Laufen gehe, nehme ich immer meine Kamera mit und die meisten meiner Hackney Marshes Bilder sind entstanden, während ich laufen war. Allerdings würde ich mich nicht auf beispielsweise Musik oder Mode spezialisieren wollen. Ich mag es nicht, wenn sich die Dinge beginnen, ständig zu wiederholen, sondern ich fotografiere gern viele verschiedene Dinge.

Findest du, dass diese persönlichen Projekte auch für deine bezahlte Arbeit hilfreich sind?

Zum einen ist es natürlich Übung. Und wenn ich viel Videoarbeit mache, dann vermisse ich das Fotografieren und muss mir meine Kamera schnappen und etwas für mich selbst tun. Wenn du für dich selbst arbeitest, dann kannst du machen was du möchtest, während Auftraggeber in der Regel eine bestimmte Art von Bild von dir erwarten. Natürlich kann ich den Auftragsarbeiten meine eigene Note verpassen – schließlich ist ein Grund, warum ich für den Job beauftragt wurde, hoffentlich der, dass die Auftraggeber meine persönlichen Arbeiten auf meinem Portfolio gesehen und gemocht haben. Aber beispielsweise die Portraits, die ich für unser neues Projekt der Kunst- und Kultur-Webseite mache: da richte ich mich nicht nach irgendeiner Meinung außer dem, was ich selbst davon erwarte – und das ist super, wenn man das kann.

"Ich würde mich nicht auf beispielsweise Musik oder Mode spezialisieren wollen. Ich fotografiere gern viele verschiedene Dinge." 

Paul fuller photographing
Wie bist du klargekommen, als du als Freiberufler in London Fuß fassen wolltest, nachdem du deinen Job als Zeitungs-Art-Director verlassen hast?

Als ich als Freiberufler begonnen habe, hat mich eine ehemalige Kollegin einer ihrer Freunde empfohlen. Die hatte eine Firma gegründet hat und brauchte Videos für Tutorials. Schließlich habe ich all ihre Videos und einige Fotos gemacht. Diese Kunden haben mich dann wiederum an eine Streetstyle Webseite weiterempfohlen, so dass ich dann in Shoreditch Streetsyle fotografiert habe. Danach hat mich einer der Jungs dieser Webseite einer Unternehmerin vorgestellt, die eine Stressmanagement-App entworfen hat. Also fotografiere ich für sie. Zum anderen hat mich der Webseiten-Mitarbeiter den Leuten vorgestellt, die die Filme gemacht haben, die ich letztes Jahr fotografiert habe. Fast alle meiner Aufträge kommen von Leuten mit denen ich schon mal zusammengearbeitet habe oder die ich auf Jobs kennengelernt habe. Eine Empfehlung ist der Nächsten gefolgt.  

Wow, das spricht für deine Arbeit! Versuchst du manchmal an Jobs zu kommen, bei denen es keine Connections gibt?

Ja, ich kontaktiere immer wieder Firmen. Aber meiner Erfahrung nach melden die sich nicht zurück – außer du kontaktierst sie genau in dem Moment, in dem sie gerade jemanden für einen bestimmten Job brauchen. Leute vergessen. Und in dem Moment, in dem sie jemanden brauchen, erinnern sie sich an den letzten Fotografen, den sie getroffen haben, nicht unbedingt den Besten.

Wir gehen an einem improvisierten Schild vorbei, das an einem Baum befestigt ist. Paul macht ein Bild davon….

Das könnte etwas für mein Hackney-Buch sein… Ich habe in letzter Zeit viele Bilder von „Vermisst-Postern“ gemacht. Es hat angefangen mit einem dieser “Katze vermisst“-Poster, das an einen Baum geheftet war. Es war in einer transparenten Hülle, aber Wasser ist in die Hülle gelaufen und das Bild der Katze, also die Tinte, war völlig verlaufen. Da war nur noch Geschmiere übrig und die Überschrift „Katze vermisst“. Ich dachte: „Ja, sie fehlt nun sogar auf dem Bild“. Von da an habe ich ein Foto gemacht wenn ich ein Vermisst-Poster gesehen habe. Wenn die für einige Zeit im Regen draußen hängen, dann werden die Bilder völlig verzerrt. Inzwischen habe ich alle Mögliche gefunden: Bei einem Shooting in Knightsbridge war ein Plakat an die Wand eines sehr teuren Hotels befestigt und vermisst wurde ein weißer Sittich.

"Wenn ich etwas regelmäßig sehe und ich dann öfter darüber nachdenke, fange ich an, Bilder davon zu sammeln."

Das heißt, du triffst eher zufällig auf deine Projekte und versuchst nicht unbedingt welche zu finden?

Ja, letzten Sommer im Lockdown habe ich damit begonnen Lichtstreifen im Haus zu fotografieren. Wenn zum Beispiel etwas Sonne durch die Jalousien kommt. Jetzt habe ich einen Ordner, der heißt “Licht im Haus”. Im Sinne des ernsthaften Versuchs, richtige Projekte zu haben: wenn ich etwas regelmäßig sehe und ich dann öfter darüber nachdenke, fange ich an, Bilder davon zu sammeln.

Wir kommen an Bäumen und Baumteilen vorbei, die vom Wind abgebrochen worden sind…

Obwohl ich hier fast jeden Tag vorbeikomme, sehe ich doch immer wieder etwas Neues – sogar an den gleichen Stellen. Das Licht ist immer etwas anders und das Licht in diesem Frühling wird anders sein als das im Frühling letzten Jahres. Denn manche Bäume werden nicht mehr hier sein und das Licht wird Stellen erreichen, an die es vorher nicht kam. Es ändert sich ständig. Das Chaos fasziniert mich – 100 Jahre altes verdrehtes und verwachsenes Holz… Und hier: da wachsen kleine Pflanzen aus dem Holz, die überhaupt nicht Teil des Baums sind. Jeder Fleck ist so unfassbar komplex. Da sind Millionen verschiedener lebendiger Wesen. Es wäre ein interessantes Projekt nur dazusitzen und eine Stunde lang Dinge zu fotografieren, die unmittelbar um einen herum sind. Ich könnte wahrscheinlich eine Stunde damit verbringen, einfach nur all diese Details zu fotografieren.  

Würdest du sagen, dass Natur etwas ist, was dich zum Bildermachen anstiftet oder inspiriert? Was sind die Dinge, die deine Kreativität in Gang bringen?

Wenn mich etwas inspiriert, dann bin ich mir dessen wahrscheinlich nicht bewusst. Es ist eher so, dass ich hier immer interessante Sachen sehe. Ich bin ziemlich fasziniert von dem, was unter dem Wasser im Fluss ist – wenn das Wasser richtig tief steht sieht man da alles Mögliche – sogar ein Auto. Und am Ufer gibt es ein Motorrad, das mal neben dem Fluss vergraben war und das jemand ausgegraben hat. Das Nummernschild war noch zu sehen, als ich es zum ersten Mal gesehen habe. Ich habe ein Bild davon gemacht und nachgeforscht: Es wurde 1977 angemeldet und hatte nie seinen ersten TüV. Das heißt, jemand muss es gestohlen haben, als es noch ganz neu war, und dann versucht haben, es hier am Fluss loszuwerden – seitdem war es hier vergraben.  

Wow verrückt! Sind solche Entdeckungen deine Motivation, warum du überhaupt Fotograf geworden bist? Was motiviert dich?

Fotografie gibt mir eine Ausrede rauszugehen und Neues zu entdecken, Leute anzusprechen, Orte zu besuchen. Das ist ein großer Antrieb für mich. Zum Beispiel die Arbeit für die Streetstyle Webseite – ich hab`s geliebt. Manchmal hat ein Foto zu einer einstündigen Unterhaltung geführt und ich hatte unglaublich tolle Gespräche. Einmal haben wir eine Praktikantin mitgenommen, um ihr zu zeigen, wie wir bei den Street Style Fotos vorgehen. Am Ende des Tages sagte sie, sie wird nie wieder auf diesem Planeten umhergehen und andere Leute mit den gleichen Augen sehen wie vor diesem Tag. Jede Person, die wir für ein Foto angehalten haben, war absolut faszinierend. Ich mag es einfach, rauszugehen und Leute zu treffen. Eine Kamera in der Hand zu haben und damit einen Grund zu haben, an einem Ort zu sein, gibt dir Motivation und eine Lizenz deine Nase in Ecken zu stecken, in denen du sonst nichts verloren hättest.  

"Fotografie gibt mir eine Ausrede rauszugehen und Neues zu entdecken, Leute anzusprechen, Orte zu besuchen. "

Und was sind deine aktuellen Projekte und Ziele?

Für unsere neue Kunst- und Kultur-Webseite habe ich Portraits von Künstlern fotografiert und davon will ich mehr machen. Ich frage mich, warum ich das nicht schon früher viel öfter gemacht habe. Vermutlich war mein Hauptproblem die Schwierigkeit, auf Leute zuzugehen. Ich meine, es ist super unangenehm, einfach so Leute auf der Straße anzusprechen und sie zu fragen, ob ich ein Foto von ihnen machen kann. Als ich das für den Street Style Job gemacht habe, hatte ich überhaupt kein Problem damit, denn es war ja mein Job. Aber wenn es nur für mich persönlich wäre… Die Webseite gibt mir einen Grund, Leute anzuschreiben und zu sagen „Hey, wir machen diese Kunst und Kultur Webseite, können wir dafür ein paar Bilder von dir machen?“ und die allermeisten sagen ja. Außerdem habe ich selten mal was ausgedruckt, aber seit ich diese Portraits mache, drucke ich ganz viel – ich muss die Bilder als Druck sehen und in meinen Händen halten. Also: mehr Drucke und mehr Portraits. 

Pauls` Arbeit ist auf folgender Webseite zu finden: www.paulfuller.co.uk, außerdem auf Instagram @pf_photographer. Speziell seine Hackney-Bilder postet er auf @hackneycamera.

Die neue Kunst und Kultur Webseite "Mustaaärd" ist auf www.mustaaard.com 

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Über die Autorin: www.business-fotografin.com

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